Schnecken - Hipster mit Häuschen
Schon bald sind sie wieder da. Gegenwehr ist mühevoll, aber meistens aussichtslos. Strecken wir also die Fühler nach diesen faszinierenden Weichtieren aus und weiten den Blick auf sie.
Schon im Herbst deutete sich an, was so sicher ist, wie das Amen in der Kirche: die Schnecken kommen auch in der nächsten Gartensaison. Bei jedem zweiten Spatenstich perlten Stecknadelkopf große, durchscheinend weiße Eier hervor - erstaunlich blütenreinweiße Eier sogar, obwohl sie mitten in der Erde lagen.
Kuck mal, wer da schlüpft
Den Winter über blitzten die Eier dann immer mal wieder im Unterbewusstsein auf und hinterließen ein diffuses Gefühl der Bedrohung. Schlummern die Eier der „guten“ Schnecken dem Frühlingserwachen entgegen, fragte ich mich, also die Eier der Schnecken mit Häuschen, oder warten Invasionen kleiner Nacktschnecken darauf, die Eihülle zu verlassen und sich auf das zarte Gartengrün zu stürzen?
Schneckenwissen versus Schneckenkorn
Was tut man, wenn man kein Schneckenkorn streuen, keine Bierfallen aufstellen und schon gar keine Schnecken zerschneiden will? Lesen! Und zwar das kleine, aber feine Buch von Florian Werner. Schnecken heißt es schlicht und kommt fast in der orange-braunen Färbung der spanischen Wegschnecke daher.
Wollust und unbefleckte Empfängnis
Wer zu blättern beginnt, schraubt sich - wie in die Windungen eines Schneckenhauses - in das Wesen der Weichtiere. Als erstes fesseln die Abbildungen von gemusterten Nacktschnecken, die mit zacken- und flügelartigen Ausbuchtungen überraschen und mit ihren leuchtenden Farben von erbsengrün bis knallrot an wild gewordene Gummibärchen erinnern. Eher romantisch wirken die zart gestreiften Häuschen der Bänderschnecke, gefolgt von der Fotografie des ersten Bondgirls, Ursula Andress, die mit einer riesigen Fechterschnecke vor der Brust, Erotik versprüht. Nur ein paar Seiten weiter zeigt ein Gemälde das genaue Gegenteil. Die Darstellung Mariä Verkündigung, auf der neben dem knieenden Erzengel eine Weinbergschnecke seelenruhig ihre Bahn zieht.
Und nachdem man das Buch einmal durch- und dann wieder zurückgeblättert hat, lohnt es sich, mit dem Lesen zu beginnen.
Literaturwissenschaftler und Schrebergärtner
Der Literaturwissenschaftler und Besitzer eines Schrebergartens, Florian Werner, hat in akribischer Recherchearbeit nicht nur die Spuren der Schnecken in der Malerei, der Architektur und in der Philosophie zusammengetragen, er erzählt auch von eigenen Schneckenerlebnissen- und Erkenntnissen. So ist er mit eigener Rennschnecke bei einem Schneckenrennen in England angetreten und hat in Bern einen Architekten besucht, der plant, ein "Schneckenhaus" für Menschen zu bauen.
Je mehr man über die Schnecke erfährt, desto klarer wird: die Gattung passt perfekt zu unserem Zeitgeist.
Schnecken als Hipster
Schnecken stehen für viele Werte und Strömungen, die uns heute umtreiben. Sie stehen für Entschleunigung und Achtsamkeit, für wilden Sex und regionale Produkte. Und auch, wenn all diese Erkenntnisse für keine einzige Schnecke weniger im Garten sorgen, führen sie doch vielleicht zu einer größeren Gelassenheit bei der nächsten Invasion.
Warum die Schnecke dem heutigen Zeitgeist besonders entspricht, weshalb sie bei Katholiken kulinarisch eine größere Rolle spielt als bei Protestanten, und wie die Rennschnecke von Florian Werner beim Schneckenrennen in England abgeschnitten hat - hören Sie in der Sendung.
Buchtipp:
Florian Werner; Schnecken, 18 Euro
erschienen in den Naturkunden bei Matthes und Seitz
mit wunderbaren Illustrationen von Falk Nordmann
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